Stalag X B – ein Ort für das Gedenken

Letzte Erinnerung – Themenschwerpunkt Zeitgeschichte-online

Baracke

Baracke der russischen Krieggefangenen © Sarah Mayr (veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung)

Dieses Jahr wird, nach 2014, einem weiteren Krieg gedacht. 2015 jährt sich zum siebzigsten Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs. Aus diesem Grund stellt sich Zeitgeschichte-online einen Monat lang mit einem Themenschwerpunkt vor. Das Thema behandelt einen bisher oftmals vernachlässigten Gegenstand der Geschichte – die Kriegsgefangenen in deutschen Arbeitslagern. Dazu werden die Arbeiten von Sarah Mayr vorgestellt. Die Fotografin beendete 2014 ihr Studium an der Ostkreuzschule für Fotografie (Berlin) in der Abschlussklasse von Ludwig Rauch. Sie beschäftigt sich in ihrer Abschlussarbeit mit dem ehemaligen Arbeitslager für Kriegsgefangene in Sandbostel im Zweiten Weltkrieg. Die ungewöhnliche Bezeichnung „Stalag X B“ steht für ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager. Damals bezeichnete es das Mannschafts-Stammlager B im Wehrkreis X in Sandbostel. Dort wurden gefangene Soldaten und Widerstandskämpfer aus den verschiedensten Ländern untergebracht und zur Arbeit gezwungen.

Die junge Fotografin ist aus Zufall auf das Lager nordöstlich von Bremen aufmerksam geworden. „Meine Mutter war in die Nähe gezogen. Als ich sie besuchte, zeigte sie mir die verfallenen Barracken, und ich begann, sie zu fotografieren. Damals gab es noch keine Gedenkstätte.“ Sie wollte Öffentlichkeit für den Ort herstellen und beließ es nicht nur bei den Schwarz-Weiß-Aufnahmen, sondern suchte nach Zeitzeugen, die den Lageralltag miterlebt hatten und die Ereignisse schildern konnten. Entstanden sind Porträts und Interviews von acht Männern aus sieben verschiedenen Ländern, die von ihrer Festnahme, über ihre Lagerhaft und die Befreiung sprechen.

Einer von ihnen ist der ehemalige französische Widerstandskämpfer Raymond Gourlin, der mit 19 Jahren in das Arbeitslager kam, nachdem er von SS-Männern als Partisan verhaftet worden war. Seine erste Reaktion war lautes Lachen, so beschreibt er seine damalige Situation. Er konnte die Zustände an diesem Ort nicht fassen und lachte über diese abstruse Situation. Später sei ihm das Lachen schnell vergangen. Er erzählt von den Ermordungen, deren genaue Opferzahl unbekannt ist, da alle SS-Dokumente verschwunden seien. So berichtet er: „Ein Russe war auf seinem Arbeitstisch eingeschlafen, und seine Bohrmaschine hatte dabei ein Loch in den Tisch gemacht, er wurde dafür wegen Sabotage verhaftet, in Neuengamme zum Tode verurteilt und in der Fabrik, vor den Augen aller, gehängt. Das Zivilpersonal der Fabrik wurde evakuiert, es blieben nur noch die SS und die Gefangenen. Der Russe stand auf einem Hocker, die Hände hinter dem Rücken gebunden und den Hals in der Schlinge. Ein deutscher Gefangener stieß den Hocker um. Ich stand vier oder fünf Reihen entfernt davon, ich habe alles mit angesehen … alles …“

„Willst du mit uns kollaborieren oder bist du gegen uns?“ Der größte Teil hat geantwortet: „Nein, wir wollen nicht kollaborieren, wir sind das italienische Heer und haben mit euch nichts gemein.“ Diese Frage wurde Michele Montagano zuerst von den Deutschen gestellt. Er verneinte sie und wurde in einem Viehwaggon nach Deutschland verfrachtet. Auch er erlebte am eigenen Leib Schikane und Unterdrückung im Gefangenenlager Sandbostel. Trotz allem denkt er nicht kollektiv schlecht über Deutschland. Auf die Frage, welches Verhältnis er heute zu Deutschland habe, antwortet er: „Sehr gut, ich schätze die Deutschen enorm, ich bewundere sie. Alle Deutschen, die ich getroffen habe, nach dem Krieg, waren gute Menschen. Sie waren in Ordnung, ernsthafte Menschen.“ Er warnt aber auch, dass die Deutschen zu angepasst waren und es noch sind – und dass dies gefährlich sei.

Michele Montagano

Porträt von Michele Montagano © Sarah Mayr (veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung)

Die Interviews sind sehr persönlich. Die Männer reden offen über ihre Erlebnisse und haben auch ihre ganz individuellen Meinungen. So wirkt die Antwort des Polen Wiktor Listopadzki auf die Frage, ob er den Generationen, die keinen Krieg erlebt haben, etwas zu sagen hätte, sehr verletzt und zornig zugleich. „Der Krieg ist das Schlimmste, was der Menschheit passieren kann. Es sterben sehr viele junge, alte, kranke und gesunde Menschen dabei. Es ist eine menschliche Tragödie. So etwas sollte niemals passieren. Alle sollten sich vereinigen und Freunde sein. Es sollte nie dazu kommen, dass jemand einem anderen etwas wegnehmen möchte. Die Menschheit sollte Widerstand gegen jene leisten, die Krieg führen wollen. Mein Leben im Krieg war sehr schlimm. Die ganze Jugend habe ich im Kampf verbracht und wurde ohne Respekt behandelt. Getreten von den Deutschen und den Russen. Sie haben meine Mutter ausgeraubt und … Ich will mich hier nicht weiter aufregen. Danke.“

Zu Recht widmet sich Zeitgeschichte-online mit den mutigen Männern aus Sandbostel diesem weitgehend unbekannten Lager der SS. Zu lange wurde diesem Ort nicht die nötige Beachtung geschenkt. Erst 2013 eröffnete auf dem alten Lager-Gelände eine Gedenkstätte. Die Jahre zuvor wollte man sich nicht mit seiner Geschichte auseinandersetzen. Unglaublich erscheint die Verdrängung der unangenehmen Vergangenheit.

Recht hat Michele Montagano damit, wenn er sagt: „An uns muss sich erinnert werden, weil wir Mut hatten, nicht in Italien, sondern in Deutschland, Nein zu sagen. Wir haben Nein gesagt in Deutschland, und das ist es, was sie über uns erzählen sollen. Das bedeutet moralische Integrität.“

Alle acht porträtierten Männer sitzen vor einer grauen Wand und schauen den Betrachter frontal an. Durch ihre Haltung und ihre Kleidung jedoch unterscheiden sie sich. Raymond Gourlin zum Beispiel sitzt gerade auf dem Stuhl und schaut ohne jegliche Emotionen in die Kamera. Er trägt ein Jackett und dazu eine Krawatte, seine Hände ruhen übereinandergelegt auf seinen Beinen. Man vermutet bei einer solchen Darstellung keinen ehemaligen Widerstandskämpfer – umso mehr beeindrucken seine Worte. Anders als der Franzose lässt sich Harry Callan porträtieren. Auch er hat zwar seine Hände auf den Beinen liegen, jedoch posiert er in seiner ehemaligen Uniform, inklusive seiner Auszeichnungen. Wie oben erwähnt, wollte er nicht von seinen Erfahrungen erzählen. Trotzdem lässt sich ein gewisser Stolz über das eigene Leben und Überleben erahnen.

Schaut man sich die Schwarz-Weiß-Aufnahmen an, die Sarah Mayr zu Anfang ihres Projekts machte, wird erkennbar, welche Details in den Abbildungen stecken. Die Bilder zeigen verfallene Gebäude, die nicht mehr an die Grausamkeiten der Nationalsozialisten erinnern, sondern auch Überreste eines Bauernhofs sein könnten. Hier wird wieder einmal klar, dass die Betrachtung von Fotografien ohne Bildunterschrift gänzlich in die Irre führen kann. Sarah Mayr will die Geschichte öffentlich machen und den Umgang mit dem Nationalsozialismus zeigen und auf ihre Weise darstellen. 2013 besuchte sie die Gedenkfeier in Sandbostel und knüpfte Kontakte zu Zeitzeugen. Sie lediglich zu fotografieren, reichte ihr aber nicht, sie wollte die Geschichte hinter den Menschen erfahren und vermitteln. Sarah Mayr betont: „Das Wissen und die Erinnerungen der Zeitzeugen sind wertvoll, sie bezeugen, was geschehen ist. Ihre Worte stehen gegen die Lüge, die sich in großen Teilen der Gesellschaft wieder breit macht, die alles verharmlost und die die Deutschen als Opfer verklärt.”

Die Ergebnisse der Interviews und die Porträts können vom 1. April bis 30. April 2015 in der Gedenkstätte Sandbostel angeschaut werden.

 

Sarah Mayr, Letzte Erinnerungen. Porträts ehemaliger Häftlinge des Kriegsgefangenenlagers Sandbostel, in: Zeitgeschichte-online, Dezember 2014, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/letzte-erinnerungen

 

Stefanie Steinbach, Sarah Mayr im Interview, in: Zeitgeschichte-online, Januar 2015, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/sarah-mayr-im-interview

Folgende Beiträge könnten Sie auch interessieren:

Artikel kommentieren

Ihre Email wird nicht veröffentlicht.

AlphaOmega Captcha Historica  –  Whom Do You See?