Bilder der Erinnerung

Visualisierungen des Holocaust im sozialen Gedächtnis

1986 stellte die US-amerikanische Historikerin Sybil Milton fest, dass die visuelle Repräsentation des Holocaust aus einem wiederkehrenden Repertoire an Bildern schöpfe, das sich bemerkenswerterweise vom historischen Quellenbestand gelöst habe. Obwohl mehr als zwei Millionen Fotografien überliefert seien, so Milton, würden in der populären und wissenschaftlichen Literatur immer wieder dieselben Bilder genutzt, um die Geschichte des Holocaust zu veranschaulichen.

Ihrer Beobachtung folgten Arbeiten, die sich verstärkt der medialen Visualisierung des Holocaust in der Erinnerungskultur zuwandten und die fotografische Repräsentationsgeschichte als Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse entdeckten. Unter dem Aspekt der Tradierung verweist dieses sich wiederholende Set an Bildern auf ein kollektives Bildgedächtnis an den Holocaust. Es besteht aus Fotografien, die zu Ikonen geworden sind: das Torhaus von Auschwitz-Birkenau, das Foto mit dem Jungen aus dem Warschauer Ghetto oder das Porträt von Anne Frank, genauso wie aus Zeichen: den Stacheldraht und den „Gelben Stern“, und Motivgattungen: z.B. die strukturierten Reihen der Deportationen und Lagerappelle, mit denen die Geschichte für die Gegenwart symbolisiert wird.

Bislang ist aber nur wenig darüber bekannt, in welcher Art und Weise diese bildsymbolische Ordnung die Wahrnehmung des Holocaust im sozialen Alltagsgedächtnis beeinflusst. Das Forschungsprojekt „Bilder der Erinnerung. Visualisierungen des Holocaust im sozialen Gedächtnis“ nähert sich dem Phänomen des „visuellen Erinnerns“ aus einer wissenssoziologischen Perspektive. Die individuelle Erinnerung rekurriert auf ein gesellschaftlich geteiltes „visuelles Wissen“ über die Vergangenheit, das sich – so die Annahme – aus dem Tradierungszusammenhang des kollektiven Gedächtnisses zusammensetzt. Die Ikonografisierungen und Symbolisierungen des Bildgedächtnisses sind dem Einzelnen medial bekannt und geschichtskulturell sozialisiert.

Plakat der Kampagne „Operation Last Chance II“ des Simon-Wiesenthal-Centers

Photo: Oliver Berg. Bildunterschrift dpa: „A poster of the poster campaign ‘Late. But not too late! Operation Last Chance II’ hangs in downtown Cologne, Germany, 23 July 2013. The campaign by the Simon Wiesenthal Centre in Jerusalem aims to find non-sentenced Nazi war criminals with help from the population and try them in court.“
Öffentliche Repräsentation: Das Foto des Torhauses von Auschwitz-Birkenau ist Bestandteil des gesellschaftlichen Wissens über den Holocaust geworden, das immer noch verspricht, genügend Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Plakat der Kampagne „Operation Last Chance II“ des Simon-Wiesenthal-Centers zur Suche nach NS-Tätern, Köln 2013 © dpa mit freundlicher Genehmigung

Bild-Erinnerung bedeutet in diesem Verständnis, sich daran zu erinnern, in der öffentlichen Geschichtsvermittlung Erfahrungen mit den Repräsentationen des gesellschaftlichen Bildgedächtnisses gemacht zu haben. Daran knüpfen grundlegende Fragen über die Wirkmächtigkeit der Bilder an: Welche „objektive“ Bedeutung besitzen die Symbolbilder und Bildsymbole des Holocaust für das visuelle Erinnern? Welche „subjektiven“ Vergangenheitskonstruktionen lösen sie bei ihren Betrachtern aus? Wie stark beeinflusst das im Bildgedächtnis tradierte Wissen und die darin eingebetteten visuellen Stereotypisierungen wie auch die Topoisierung das Deuten und Wissen von Vergangenheit? Und wie stark ist dieses Wissen wiederum ikonografisch geprägt?

Die empirische Studie beschäftigt sich also mit dem Zusammenhang zwischen individueller Bilderinnerung und kollektivem Bildgedächtnis. Anhand von neun generationszentrierten Gruppendiskussionen wird in der Dissertation die Rezeption fotografischer Erinnerungsträger anhand des Antwortverhaltens der Gruppe untersucht. Über die vergleichende Analyse der Gruppendiskurse sollen insbesondere die Differenzen zwischen verschiedenen generationellen „Bilderwelten“ und ihren habitualisierten Rezeptionspraktiken erschlossen werden.

Folgende Beiträge könnten Sie auch interessieren:

Artikel kommentieren

Ihre Email wird nicht veröffentlicht.

AlphaOmega Captcha Historica  –  Whom Do You See?