Rezension: Martina Winkler, Panzer in Prag

Der fotografische Blick auf die Invasion von 1968

Cover: Martina Winkler, Panzer in Prag. Der fotografische Blick auf die Invasion von 1968, Düsseldorf C.W. Leske Verlag 2018

Das Protestjahr 1968 ist ohne die Fotografien, die damals in den Bildjournalen der westlichen Welt kursierten, heute nicht mehr zu denken. Längst hat sich ein visuelles Narrativ dieses annus mirabilis verfestigt, das als Chiffre stellvertretend für die politische und kulturelle Revolte der langen 1960er Jahre steht. Zu seinem zentralen Personal gehören protestierende junge Menschen. Mit Attributen wie Transparenten und Megafon versehen und Gesten der gereckten Fäuste und entblößten Brüste illustrieren sie in Anlehnung an eine viel ältere revolutionäre Ikonografie die kollektive Erinnerung an den gesellschaftlichen Aufruhr in den Hörsälen und auf den Straßen von West-Berlin, Paris oder Berkeley. Eingang in dieses globale Narrativ von 1968 haben auch die ikonischen Bilder des zivilen Widerstands der Prager Bevölkerung gegen die Invasion der Truppen des Warschauer Pakts am 21. August von Josef Koudelka gefunden. Der als Bühnenfotograf geschulte Koudelka verstand es, die Dramatik des zum größten Teil friedlichen Protests gegen die Panzer auf den Straßen heroisch in Szene zu setzen, was seine Aufnahmen anschlussfähig machte an das visuelle Narrativ der rebellierenden Jugend.

In ihrem Essayband „Panzer in Prag“ unternimmt Martina Winkler es, diese bekannten Motive im Kontext des ungleich vielfältigeren Korpus an fotografischen Sujets der seinerzeit professionell wie privat tausendfach abgelichteten Geschehnisse historisch zu interpretieren. Sie leistet damit Pionierarbeit, denn obwohl Fotografien des Prager Frühlings und seiner Niederschlagung besonders nach 1989 vielfach veröffentlicht worden sind, waren sie bislang noch nicht Gegenstand einer kritischen Betrachtung. In der Form von Essays zu aussagekräftigen fotografischen Sujets und Motiven (darunter „Alltag und Invasion“, „Mythos Prag“, „Panzer“ und „Kinder“) und deren Verwendung (so zeitgenössisch in Zeitschriften, aber auch später in privaten Sammlungen oder im Spielfilm) gelingt es der Autorin dabei mühelos, historisch komplexe Zusammenhänge allgemeinverständlich zu erläutern und damit eine breitere Öffentlichkeit anzusprechen, ohne den Anspruch einer wissenschaftlich fundierten Herangehensweise an die Bilder aufzugeben. Dies unterscheidet die Essaysammlung von zahlreichen anderen Bildveröffentlichungen, die zu den Jahrestagen erschienen und zumeist von Zeitzeugen kommentiert worden sind, aber auch von geschichtswissenschaftlichen Studien, in denen Fotografien von 1968 rein illustrativ, d.h. einerseits unreflektiert und andererseits deren epistemologisches Potential ignorierend, verwendet werden.

Diese Lücke mag nicht zuletzt darin begründet sein, dass das heterogene Bildmaterial in seiner Gesamtheit, das bei Winkler von Aufnahmen bekannter Bildjournalisten wie Robert Lebeck bis zu privaten Erinnerungsalben reicht, eine besondere methodische Herausforderung für die Forschung darstellt. Nach einem Kapitel, das die historischen Zusammenhänge des „Prager Frühlings“ aus Sicht der aktuellen Forschung zusammenfasst, ist deshalb den Bildanalysen ein eigenes Kapitel zum methodischen Vorgehen vorgeschaltet. Hier verortet die Autorin ihre Bildbetrachtungen im Kontext der Visual History, die nicht eigentlich eine Geschichte der einzelnen Bilder anstrebe, sondern eine des gesellschaftlichen Umgangs mit ihnen beziehungsweise eine Historisierung des „Sehens und Zeigens“ von Bildern (S. 33). Anstatt nach dem per se deutungsoffenen Bildinhalt und dessen in diesem Sinne zweifelhaften historischen „Wahrheitsgehalt“ zu fahnden, sei es deshalb auch sinnvoller, danach zu fragen, wie Fotografien etwas zur Darstellung bringen. Denn Fotografien spiegelten nicht nur die Wahrnehmung, sondern trügen im Gegenzug auch dazu bei, wie wir unsere Welt verstehen (S. 36).

Dies gilt in gleichem Maße für die populäre historische Wahrnehmung und das Verständnis von Geschichte. Dies macht den kritischen Essayband aktuell besonders wertvoll. Denn hier wird den visuellen Engführungen von 1968 auf eine globale Jugendrevolte entgegengewirkt und damit die Unterschiedlichkeit historischer Erfahrungen von 1968 in Ost und West angesprochen. Dies ist nach wie vor notwendig, da von der westeuropäischen Öffentlichkeit die historischen Erfahrungen der Gesellschaften der Länder Osteuropas – und hier miteingeschlossen auch Ostdeutschlands – noch immer wenig wahrgenommen werden und diese Asymmetrie zur gegenwärtig viel beklagten gesellschaftlichen Zerrissenheit Europas und Deutschlands beiträgt.

Pressematerial: Martina Winkler, Panzer in Prag, C.W. Leske Verlag © Libuše Kyndrová

Winkler hat für ihre Analyse des fotografischen Materials von 1968 umfassend in Archiven, privaten Sammlungen, einschlägigen Büchern, Zeitschriften und Zeitungen recherchiert. Bestimmend für die Auswahl der im Buch besprochenen Bilder war dabei einerseits der Wunsch, die Vielfalt des Korpus zu spiegeln, andererseits aber auch der Häufigkeit von Sujets Rechnung zu tragen und schließlich einen Bezug zu zentralen Fragen des Prager Frühlings und der Invasion zu berücksichtigen wie beispielsweise die Freundschaft mit der Sowjetunion oder die Rolle der tschechoslowakischen Medien.

Die folgenden locker aneinandergereihten Essays erlauben einen facettenreichen Zugang zu den Bild- und Erlebniswelten der Ausnahmetage von 1968. Dies liest sich unterhaltsam und erkenntnisreich. Etwa wenn durch den aufmerksamen Blick der Autorin scheinbar Nebensächliches wie das häufig anzutreffende Motiv der Aktentasche als Attribut von Passanten in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Das Motiv eignete sich besonders gut, um durch die Kombination einer solchen Chiffre für den friedlichen Alltag mit der bewaffneten Verschanzung in den Panzern die empfundene Absurdität der Situation der Besatzung vor Augen zu führen.

Darüber hinaus zeugen die bürgerlichen Aktentaschenmänner, die auf den Fotos abgebildet sind, mit Soldaten diskutieren, aber auch mit einem Pflasterstein nach einem Panzer werfen (Josef Koudelka), von der Tatsache, dass der Protest anders als in Westeuropa nicht hauptsächlich von der „langhaarigen“ Jugend getragen wurde, sondern alle Alters- und sozialen Gruppen vereinte. Die Aufnahme bietet zudem ein gutes Beispiel für die zumeist vom Westen ausgehende globale Zirkulation der Bilder, wo der Pflasterstein durch die massenmediale Verdichtung auf zentrale Motive[1] symbolische Bedeutung für die Revolte erlangt hatte, wie Winkler herausstellt. Koudelkas Bild bedient jedoch diese Ikonografie nicht, sondern bricht sie, indem der Steinewerfer durch seine Kleidung als „ordentlicher“ Bürger gekennzeichnet ist, dessen behäbige Geste gegen den übermächtigen Panzer hilflos und zugleich tragikomisch wirkt. In diesem sympathisierenden Blick auf den „kleinen Mann“ in seiner Bedeutungslosigkeit angesichts der übermächtigen Ereignisse wird eine Anverwandlung der durch Henri Cartier-Bresson und andere geprägten humanistischen Fotografie greifbar, wie sie für die Dokumentarfotografie in der sozialistischen Tschechoslowakei typisch war.[2] Eine solche auf Form und Modi konzentrierte beziehungsgeschichtliche fotohistorische Perspektive steht nicht im zentralen Interesse der Autorin, ebenso wenig wie in dem der Visual History insgesamt. Dabei würde eine entsprechende Ergänzung der Analyse, nicht nur der Motive, sondern auch der verwendeten Bildsprachen, ihrer spezifischen Traditionen wie semantischen Bezugssysteme Erkenntnisse über die sinnweltlichen Verwendungen des Mediums im Spannungsverhältnis von globalen visuellen Trends und den lokal spezifischen Bedeutungen versprechen.

Der gewählte Fokus liegt bei Winkler auf den Motiven und verwendeten Metaphern, deren historische Komplexität sie in großer Klarheit und Kürze für die deutschen Leserinnen und Leser aufbereitet. So etwa bei Fotografien, die die ikonischen Kulissen von Prag nutzen, wie den Altstädter Ring oder den Wenzelsplatz, um symbolische Bezüge zur nationalen Vergangenheit herzustellen. Das Denkmal des Heiligen Wenzel war 1968 nicht zufällig zum Träger von Protestbotschaften durch Beschriftungen und Plakate geworden. Vielmehr stand der böhmische Landespatron seit der Zeit des „nationalen Erwachens“ im 19. Jahrhundert für die Verteidigung der Unabhängigkeit der Nation. Auf vielen Fotografien ist diese Symbolik aufgegriffen, indem das Monument aus einer solchen Perspektive gezeigt wird, dass es an der Spitze der Menge erscheint und damit als Anführer der demonstrierenden Nation.

Pressematerial: Martina Winkler, Panzer in Prag, C.W. Leske Verlag © Jiří Haleš

Besonders interessant, da in Arbeiten zu 1968 selten vertreten, sind die Betrachtungen nichtprofessioneller Bilder. Hier zeigt sich, dass das Fotografieren selbst ein weit verbreiteter ziviler Akt des Widerstands war,[3] bei dem sich die Träger und Trägerinnen einer Kamera öffentlich als Zeugen markierten.[4] Darauf verweisen die zahlreichen privaten Aufnahmen der Geschehnisse, die teilweise Eingang in öffentliche Archive gefunden haben: so das Konvolut von Zdeněk F. in jenes der tschechoslowakischen Staatssicherheit. Das Konvolut bestätigt dabei einerseits die Motive der Profi-Aufnahmen wie Zerstörungen, Panzer oder Menschenmengen auf den Straßen des Zentrums, dokumentiert darüber hinaus aber den Widerstand abseits der zentralen Orte wie in den Wohnblocks in den äußeren Bezirken. Eine ungewöhnliche private Quelle ist zudem das Fotoalbum eines unbekannten Autors, der mit großer Sorgfalt – wie sie für diese Gattung üblich ist – Fotografien der Tage nach der Invasion zusammengestellt und kommentiert hat. Ungewöhnlich erscheint, dass in der Form des Albums, das traditionell der Darstellung des glücklichen Familienlebens dient,[5] hier der negativen Erfahrung der Okkupation gedacht wird. Ablesen lässt sich daran die starke emotionale Identifikation mit der tschechoslowakischen Bevölkerung als quasi familiärer Schicksalsgemeinschaft, die das Erlebnis dieser Tage durchzog.

Diese Konstruktion eines klaren „wir“ gegen die Okkupanten scheint deutlich auch in den Sonderausgaben illustrierter Zeitschriften vom August 1968 auf, mit denen Winkler eine weitere Quellengattung erschließt, die seinerzeit große Wirkung entfaltete, aber in Bibliotheken kaum gesammelt wurde und deshalb heute in ihrer Gesamtheit nur schwer rekonstruierbar ist. Das Erscheinen war unter den Umständen der Besatzung halb improvisiert, und die häufigen Auflagen zeugen von der Dringlichkeit ob der bald befürchteten Übernahme durch „Verräter“, die sich schließlich Anfang September 1968 materialisieren sollte, als die Presse zur erneuten Konformität gezwungen wurde.

Neben den bekannten Protestmotiven waren Aufnahmen von Politikern ein zentraler Bestandteil der Bildstrecken, so von Vertretern der Nationalversammlung, des höchsten Staatsorgans, die zu einer am Morgen der Invasion anberaumten mehrtätigen Sitzung zusammenkamen. Die außergewöhnliche Situation wurde illustriert durch Aufnahmen von angereisten Abgeordneten, die sich zum Schlafen in den Fluren hingelegt hatten. Solche Bilder vermittelten die Opferbereitschaft der Delegierten und bekundeten Solidarität mit ihnen. Winkler stellt fest, dass sich dieses Gemeinschaftsgefühl mit den politischen Repräsentanten der mittleren Ränge jedoch nicht im kollektiven Bildgedächtnis, das maßgeblich nach 1989 entstand, abbildet. Dort seien als Akteursgruppen vor allem Passanten und Soldaten präsent. Den Mechanismen des kollektiven Erinnerns gemäß sei hier selektiert worden, womöglich aus Gründen der eher negativ bewerteten Rolle dieser Politikergruppe während der Normalisierung.

Der selbst gewählte Anspruch des Buches, das fotografische Material zu 1968 als historische Quelle zu sichten und zu ordnen, wurde erfüllt. Die Autorin leistet jedoch ungleich mehr: Sie führt methodisch durch gründliche Quellenkritik, „close reading“ und sensible Kontextualisierungen vor, wie gerade auch heterogenes fotografisches Bildmaterial ertragreich analysiert werden kann, weist auf bisher unbearbeitete Quellengattungen hin und bietet zahlreiche Anregungen für die weiterführende Forschung. Dazu gehören die Bedingungen der Produktions- und Auswahlprozesse von Fotografien, die zur Veröffentlichung in Ost und West gelangten, sowie die Geschichte ihrer Verwendung nach 1968, um die hier wirksamen Mechanismen kollektiver Erinnerung und deren Verhältnis zu visuellen Narrativen von 1968 zu identifizieren. Das Lesevergnügen wird leicht beeinträchtigt durch fehlende Verweise auf die jeweils besprochenen Bilder im Text, ebenso wie durch die meist zu kleine Größe der Illustrationen. Bis auf diese kleineren technischen Mängel sowie leichte Redundanzen, die sich aber aus der Form der Essays ergeben, die nicht zwingend in einer bestimmten Reihenfolge gelesen werden müssen, ist der Band uneingeschränkt zu empfehlen.

Pressematerial: Martina Winkler, Panzer in Prag, C.W. Leske Verlag © Miroslav Martinovsky

 

[1] Kathrin Fahlenbrach, Globale (Medien-)Revolten. Die Rolle der Medien für die Proteste um 1968 in Ost und West, in: Jürgen Danyel/Jennifer Schevardo/Stephan Kuhl (Hrsg.), Crossing 68/89. Grenzüberschreitungen und Schnittpunkte zwischen den Umbrüchen, Berlin 2008, S. 120-135, hier S. 130.

[2] Vladimír Birgus, Nerozhodující okamžik, in: Československá fotografie, 1978, Nr. 3, S. 110-111, abgedruckt in Tomáš Pospěch (Hrsg.), Česká fotografie: 1938-2000 v recenzích, textech, dokumentech, Hranice 2010, S. 217.

[3] Vgl. Ariella Azoulay, The Civil Contract of Photography, New York 2008.

[4] Bohuslav Blažek, Alternativa I: Zakázané fotografie, in: Československá fotografie, 1990 Nr. 5, S. 207-224, hier S. 208.

[5] Die These wurde wesentlich von Marianne Hirsch geprägt: Family Frames: Photography, Narrative, and Postmemory, Cambridge (Mass.) 1997.

 

Martina Winkler, Panzer in Prag. Der fotografische Blick auf die Invasion von 1968, C.W. Leske Verlag Düsseldorf 2018, 232 Seiten, € 35,00, ISBN 978-3-946595-09-0

 

 

Siehe auch die Rezension auf H-Soz-Kult: Silke Betscher: Rezension zu: Winkler, Martina: Panzer in Prag. Der fotografische Blick auf die Invasion von 1968. Düsseldorf  2018 , in: H-Soz-Kult, 21.09.2018

 

 

Zitation


Eva Pluhařová-Grigienė, Rezension: Martina Winkler, Panzer in Prag. Der fotografische Blick auf die Invasion von 1968, in: Visual History, 12.11.2018, https://www.visual-history.de/2018/11/12/rezension-martina-winkler-panzer-in-prag/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1631
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