Ich habe nichts falsch gemacht, ihr macht was falsch dort …

Ein Beitrag zum zweiten Todestag von Anja Niedringhaus am 4. April 2014

The United Nations Through their Lens: Photo Exhibition: In memory of Anja Niedringhaus. Foto: Jean-Marc Ferré, Genf 2.2.2015, Quelle: UN Geneva / Flickr https://www.flickr.com/photos/unisgeneva/16434114795/in/photolist-r3e8LP-cvNxyf CC BY-NC-ND 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

The United Nations through their Lens. Photo Exhibition: In Memory of Anja Niedringhaus. Foto: Jean-Marc Ferré, Genf 2.2.2015, Quelle: UN Geneva / Flickr  CC BY-NC-ND 2.0

Was soll man mit dem Wissen anfangen, das Fotos von fernem Leiden vermitteln?, fragt Susan Sontag in ihrem Standardwerk zur Kriegsfotografie „Das Leiden anderer betrachten“ aus dem Jahr 2003.[1] Und in der Tat haben Bilder vom Krieg der Menschheit kaum zu mehr Kreativität beim Herbeiführen friedlicher Konfliktlösungen verholfen. Nach Untersuchungen der Hamburger Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) wurden 2014 weltweit insgesamt 31 Kriege und bewaffnete Konflikte geführt. Die Zahlen stagnieren seit einigen Jahren beziehungsweise sinken kaum wahrnehmbar.[2]

Stetig ansteigend ist indes die Härte im Kampf um Aufmerksamkeit, die das jeweilige Kriegsgeschehen begleitet und von den „Propagandaabteilungen“ des IS und von Boko Haram ebenso wie von den Rebellen in der Ostukraine oder den Drogenkartellen Lateinamerikas organisiert wird. Dass das Ausüben von Gewalt, zumal im Krieg, nicht Sache von Sadisten oder Perversen ist, hat Jan Philipp Reemtsma bereits vor geraumer Zeit festgestellt.[3] Gewalt dient nicht zuletzt der Kommunikation, um Grenzen zu markieren und Botschaften zu versenden.[4]

Der Kampf innerhalb gegenwärtiger Aufmerksamkeitsökonomien erfordert stetig neue Bilder. Nicht immer ist darin der „Frontverlauf“ nachzuvollziehen. Konstant bleibt lediglich der Blick auf das nicht enden wollende Leid und die banale Einsicht, dass es weder Religion noch fruchtbares Land braucht, um Gewalt zu legitimieren, oft genügen die Möglichkeit und die Macht, sie auszuüben.

Während die Aufteilung der Protagonisten auf den Bildern der Gewalttäter zumeist übersichtlich ist – Schlächter/Folterer und Opfer –, ist dies in der klassischen Kriegsfotografie anders. Hier scheint die Glaubwürdigkeit jener Bilder besonders hoch, bei denen man meint, eine Ahnung davon zu bekommen, was der Krieg für alle Beteiligten bedeutet. Die Fotograf/innen, die in der Lage sind, den Betrachtern, also uns, die lediglich durch die Schlagzeilen über das Chaos im Berliner LAGeSo vom Krieg berührt sind, ein Gefühl dafür zu vermitteln, was in den Zonen der Gewalt passiert, sind in erster Linie Profis. Sie sind weder Heilige noch pausenlos von missionarischem Eifer beseelt. Sie machen ihren Job. So bezeichnete eine der erfolgreichsten (Kriegs-)Fotografinnen der Gegenwart ihre Einsätze in Kriegsgebieten. Es ist ein Job, erklärte Anja Niedringhaus in einem Dokumentarfilm aus dem Jahr 2014. Mit der gleichen Professionalität, mit der sie ihren Job machte, spricht sie in die Kamera. Sie erzählt von der Angst, vom Sterben, über den Kriegsalltag und über lebensrettende Freundschaften. Es gibt kein Pathos in ihrer Rede, keine Theorie des Bildes, lediglich die nüchterne Arbeitsplatzbeschreibung: Krieg.[5]

Im Jahr 2004 befindet sich Anja Niedringhaus als „embedded journalist“ in Falludscha. Sie ist an vorderster Frontlinie, als die Stadt von US-Truppen erobert wird. Zur Erinnerung: Nach Beginn der völkerrechtswidrigen Militärinvasion der USA in den Irak im März 2003 und dem von George Bush erklärten Kriegsende im Mai desselben Jahres begann eine Gewaltspirale, deren Bürgerkriege, Terroranschläge und Gewaltkriminalität vor allem die irakische Zivilbevölkerung trafen. Die Schlacht um Falludscha gilt als die blutigste Schlacht des Irakkrieges, mit einem der schwersten Häuserkämpfe in der Geschichte der US-Armee.

Es gab nur sehr wenige Journalisten, die während dieser Kämpfe dabei waren. Für Anja Niedringhaus war es der erste Einsatz als „embedded journalist“, und es existieren Bilder von ihr, die die Kritik an dieser Form des überwachten und eingehegten Journalismus als gerechtfertigt erscheinen lassen. Bilder, die eine große Nähe der Fotografin zu den US-Soldaten zeigen. Bilder, an deren Rändern gefesselte irakische Gefangene in demütigenden Posen verharren.

Ja, ihr Verhältnis zu den Soldaten sei innig gewesen, nachdem sie zwei Wochen Tag und Nacht mit diesen Soldaten zusammen war. Sie wurde beschützt, sie wurde überallhin mitgenommen, man aß gemeinsam, und sie erlebte, wie gestorben und getötet wurde, auf beiden Seiten, berichtet Anja Niedringhaus von diesem Einsatz.[6]

In diesen zwei Wochen entstanden auch jene Bilder, die Anlass dafür waren, dass sie (zunächst) aus der Truppe verbannt wurde. Bilder, die in der ganzen Welt für Empörung sorgten und das US-Militär zutiefst verärgerten. Diese Bilder zeigen die Demütigungen der irakischen zivilen Gefangenen. Ihr wurde von Seiten der Militärs vorgeworfen, die Regeln des „embedded“ verletzt zu haben, woraufhin sie erwiderte: Ich habe nichts falsch gemacht, ihr macht etwas falsch dort.[7]

Schließlich durfte sie an der Front bleiben und schoss dort das Foto, für das sie ein Jahr später den Pulitzerpreis für Fotografie bekam. Das Foto zeigt eine kleine Action-Figur, eine Soldatenpuppe, die aus dem Sturmgepäck eines amerikanischen Soldaten herausschaute, der Glücksbringer eines sehr jungen Mannes.[8] Nach dem Irakkrieg wurden die Regeln für die „embedded“ vom US-Militär derart verschärft, dass Journalisten schon bei geringstem Missfallen ihrer Berichte vom Kommandeur der Truppe „nach Hause“ geschickt werden konnten.

Als Anja Niedringhaus für Associated Press (AP) in Falludscha war, hatte sie es bereits ganz nach oben geschafft. Seit 2002 arbeitete sie für AP. Die Agentur ist mit ihren 4000 Mitarbeitern in knapp 100 Ländern der Erde die größte Nachrichtenagentur der Welt. Bereits als 25-Jährige war sie für die European Pressphoto Agency (EPA) im belagerten Sarajevo. Ich wusste damals, so erzählt sie über ihre Arbeit, wenn die das Foto sehen, dann hört das morgen auf … dann ist Sarajevo frei … So naiv dieser Satz klingen mag und so sehr sie sich später nach ihren Einsätzen in vielen anderen Kriegen ernüchtert zeigte: Von der Notwendigkeit, Bilder vom „Leiden der anderen“ zu zeigen, blieb sie bis zu ihrem Tod überzeugt.

Sieht man sich die Bilder von Anja Niedringhaus aus Sarajevo an, wird deutlich, dass sie bereits als sehr junge Fotografin einen „Blick für den Krieg“ hatte und von Anfang an erfasste, was der Krieg als Alltag für Zivilisten und Soldaten bedeutet. Es sind keine dramatischen Bilder von verwackelten Fadenkreuzen und brennenden Städten. Es sind ruhige Bilder, die in der Abbildung der Alltäglichkeit des Krieges das ganze Ausmaß seiner Grausamkeit deutlich machen.

Cover: Anja Niedringhaus – At War, Berlin 2015 © Hatje Cantz mit freundlicher Genehmigung

Cover: Anja Niedringhaus – At War, Berlin 2015 © Hatje Cantz mit freundlicher Genehmigung

Ihre Bilder aus Bosnien, dem Irak, aus Afghanistan, aus Israel und Libyen sind nicht zuletzt deshalb so verstörend, weil sie uns einen Spiegel vorhalten. Es fällt schwer, die Distanz zu wahren: Kinder gehen zur Schule, lassen Drachen steigen, lachende junge Männer auf Mofas, Frauen mit Babys auf dem Arm – wir wissen, wie sich das anfühlt. Nur der Krieg, der immer die Kulisse bildet, den kennen wir nicht. Mit ihren Bildern vom Krieg berührt Anja Niedringhaus den Betrachter in einer geradezu unausweichlichen Form, die durch den zutiefst menschlichen Blick der Fotografin entsteht. Es scheint, als habe sie zu all ihren Protagonisten zunächst eine Beziehung geschaffen: zu den Kindern, den Soldaten, den Händlern und Polizisten und vor allem zu den Frauen.

Die Soldaten: deutsche in Afghanistan, amerikanische im Irak, afghanische Polizisten. Anja Niedringhaus fotografierte sie mit demselben Blick, mit dem sie alles fotografierte: aufmerksam, hoch konzentriert und einfühlsam. So können wir die Nervosität der afghanischen Polizisten nahezu fühlen, die Jugendlichkeit der schwer bewaffneten Amerikaner sehen, die „Jungen“ zu nennen in friedlichen Zeiten erlaubt wäre, und die Verlorenheit eines deutschen Soldaten an seinem Geburtstag „im Feld“.[9]

Anja Niedringhaus liebte Afghanistan. Sie hatte eine innige Beziehung zu diesem Land und seinen Bewohner/innen und nahm viel, sehr viel auf sich, um immer wieder dorthin zurückzukehren. Sie hätte es wesentlich leichter haben können: Zwischen ihren „Jobs“ in Kriegsgebieten fotografierte sie internationale Sportereignisse, Tennis, Leichtathletik – auch hier hoch professionell mit beeindruckenden Bildern. Aber es waren die Krisen und Kriege, zu denen es sie immer wieder hinzog.

Ein Krieg, so schreibt Susan Sontag, wird „real“, wenn es Fotos von ihm gibt. Das Mitgefühl, das beim Betrachten von Bildern des Leidens im Krieg entsteht, ist dagegen „eine instabile Gefühlsregung“. Erst, wenn wir dieses Gefühl ins Handeln übersetzen, bekommt es eine Bedeutung und einen Sinn.[10]

Anja Niedringhaus hat durch ihre Bilder gehandelt, immer und überall dort, wo sie fotografierte. Sie hat – wie viele andere Kriegsreporter/innen auch – behauptet, die Kamera biete eine Art Schutzschicht zwischen ihr und dem Leiden der anderen. Vielleicht ist die Erzählung von der Schutzschicht eher ein Reflex auf die regelmäßige Nachfrage, wie das Geschehen vor der Kamera überhaupt auszuhalten sei. Dass diese Schutzschicht dünn und fragil gewesen sein muss, davon zeugt jedes einzelne ihrer Bilder.

Anja Niedringhaus hat uns mit ihren Bildern den Krieg in einer Weise erzählt, die von der Universalität menschlicher Träume und Sehnsüchte zeugt und auch ein wenig davon, wie unsere Privilegien und das Leiden der anderen miteinander verbunden sind.

Am 4. April 2014 befand sich Anja Niedringhaus in Afghanistan, um über die Präsidentschaftswahlen zu berichten. Sie wurde in einer Polizeistation in Banda Khel von einem afghanischen Polizisten erschossen. Ihre langjährige Kollegin Kathy Gannon, die neben ihr saß, überlebte schwer verletzt.

Screenshot der Seite „Anja Niedringhaus": http://www.anjaniedringhaus.com/ All images © Anja Niedringhaus / Associated Press.

Screenshot der Seite „Anja Niedringhaus“: http://www.anjaniedringhaus.com/ All images © Anja Niedringhaus / Associated Press.

 

[1] Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, Frankfurt a.M. 20052, S. 115.

[2] Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung an der Universität Hamburg.

[3] Jan Philipp Reemtsma, Was ist eigentlich „Gewaltforschung“? Einige systematische Bemerkungen, in: Zeitgeschichte-online, März 2014, .

[4] Anne Huffschmid/Wolf-Dieter Vogel/Nana Heidhues/Michael Krämer (Hrsg.), TerrorZones. Gewalt und Gegenwehr in Lateinamerika, Hamburg 2015.

[5] Die Journalistin und Dokumentarfilmerin Katja Deiß hat im Auftrag des WDR eine außerordentlich spannende Dokumentation über Anja Niedringhaus und ihre Arbeit gedreht: Gefährlicher Einsatz: Ein Portrait der Kriegsfotografin Anja Niedringhaus, Sendetermine: 24. und 28. März 2015 (WDR). Sämtliche Zitate von Anja Niedringhaus sind der Dokumentation entnommen.

[6] Ebd.

[7] Ebd.

[8] Auf der Seite: www.anjaniedringhaus.com ist unter dem tag „Iraq“das preisgekrönte Bild der Fotografin zu sehen (21.2.2016).

[9] Viele der Bilder von Anja Niedringhaus sind auf Ihrer Website zu sehen http://www.anjaniedringhaus.com/post/52128542552/a-german-soldier-sits-next-to-candles-lit-to. Dazu gehört auch das Bild des deutschen Soldaten der seinen 34. Geburtstag im Feld „feiert“ http://www.anjaniedringhaus.com/image/52128542552.

[10] Sontag, ebd., S. 118.

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