G20-Treffen als Bilderkrieg?

Ein „Offener Brief“ von Gerhard Paul – und die Stellungnahme des NDR

„G20 Hamburg – the day after.“ Foto: Rasande Tyskar, Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY-NC 2.0

Der G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 war von Gewalt geprägt. Mediale Bilder von brennenden Autos, geplünderten Läden und bürgerkriegsartigen Szenen von Vermummten in der Auseinandersetzung mit der Polizei gingen um die Welt und führten zu einem politischen und juristischen Nachspiel. Gerhard Paul, einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Visual History, hat die (Bild-)Berichterstattung im Norddeutschen Rundfunk zum G20-Gipfel zum Anlass genommen, einen „Offenen Brief“ an den Intendanten zu verfassen. Der NDR, der auch für die Berichterstattung in der ARD zuständig war, steht stellvertretend für den Umgang der meisten Medien mit den Bildern der Gewalt. Pauls Kritik richtet sich ebenso an Bildreporter, die zum Teil in typischer Perspektive von Kriegsreportern mitten aus der Situation und dazu noch in der klassischen Rückenperspektive berichteten.

Wir sind dem NDR Fernsehen-Chefredakteur Andreas Cichowicz dankbar, dass er die Genehmigung zum Abdruck seiner Stellungnahme auf Visual History gegeben hat. Die Auslassungen in den beiden Briefen beziehen sich auf Namen einzelner Redakteure. Die gezeigten Fotos stammen nicht vom NDR Fernsehen, sondern aus dem Medienportal Flickr. Es sind Fotos unter einer Creative Commons-Lizenz. Sie zeigen von der Redaktion ausgewählte Bildmotive aus Hamburg.

Die Grundfrage der Kontroverse – inwieweit die Bilder (mediale) Realitäten erst erzeugen vs. der Aufklärungspflicht der Medien – ist weiterhin aktuell und ein eminent wichtiges Thema unserer Zeit. Wir bieten daher auf Visual History eine weiterführende Diskussion an und freuen uns über Kommentare und eigene Beiträge entweder über die Kommentarfunktion unten auf der Seite oder auch per Mail an die Redaktion (bartlitz@zzf-potsdam.de).

 

G20Treffen als Bilderkrieg und die Rolle des NDR

Offener Brief an den Intendanten des Norddeutschen Rundfunks Herrn Lutz Marmor

Sehr geehrter Herr Marmor!

Nachdem sich der Pulverdampf um die Auseinandersetzungen bei dem G20-Treffen in Hamburg verzogen hat, lassen sich die Dinge vielleicht etwas klarer betrachten. Ich schreibe Ihnen sowohl als alltäglicher Medienrezipient als auch als engagierter Wissenschaftler, der sich in den vergangenen Jahren intensiv mit Fragen der visuellen Kommunikation gerade in Krisen- und Kriegssituationen befasst hat („Bilder des Krieges – Krieg der Bilder“, 2004; „Der Bilderkrieg“, 2005; „Die Geschichte des visuellen Zeitalters“, 2016).

Mich hat die Berichterstattung Ihres Senders zum G20-Treffen sehr befremdet, zum Teil sogar abgestoßen. Ebenso befremdlich fand ich es, dass es in den Debatten im Gefolge des Gipfels praktisch keine medienkritische (Selbst-)Beschäftigung mit der Berichterstattung gab.

Wir wissen seit langem, dass Bilder – egal ob die stillen Fotografien der Presse oder die bewegten Bilder des Fernsehens – nie nur neutral informieren, sondern zugleich immer auch emotionalisieren und oft sogar erst mediale Realitäten erzeugen, auf die dann reagiert wird. Das war auch in Hamburg nicht anders. Nicht nur den Mächtigen dieser Welt – allen voran aus innenpolitischen Erwägungen des Vorwahlkampfes der Bundeskanzlerin und dem Hamburger Ersten Bürgermeister – ging es um schöne und zugleich symbolische Bilder eines friedlichen Dialogs. Auch die angereisten Krawallmacher wollten Bilder: Bilder des Dissenses, der Zerstörung und der Gewalt. Weil auch die anderen Protestler der unterschiedlichen Couleur kaum eine Chance sahen, Einfluss auf die als Unrecht beklagten Verhältnisse der Weltpolitik zu nehmen, haben auch sie – wie Wolfgang Kraushaar in der heutigen Ausgabe von Welt am Sonntag zu Recht vermutet[1] – auf möglichst extreme Bilder körperlicher Gewalt gesetzt, um zumindest symbolisch Einspruch zu erheben. An der Seite der Gewalttäter – das müssen wir heute konstatieren – haben sie ihr Ziel erreicht! Nicht die Bilder des eigentlichen Gipfels bestimmten die Berichterstattung in den nachfolgenden Tagen und damit langfristig die Erinnerung, sondern die Bilder der Chaoten und Autonomen aus Altona, St. Pauli und dem Schanzenviertel: Bilder von marodierenden Vermummten, von brennenden Autos und Barrikaden, von geplünderten Geschäften, von zersplitterten Schaufenstern usf.

Dass diese Bilder überwogen, daran haben im Wesentlichen die Bilder der Fernsehmedien und hier wiederum vor allem die des NDR mit seiner Tagesschau und seinen Sondersendungen ihren Anteil, die die öffentlich-rechtliche Berichterstattung dominierten. […] Viel gravierender erscheint mir, dass der NDR den Gewalttätern erst die Bilder – und übrigens vielfach auch die Informationen – lieferte, weshalb diese angereist waren.

Gewalt zieht bekanntlich an. Das wussten nicht nur Gewaltprediger wie Joseph Goebbels. Auf Bilder der Gewalt setzten und setzt auch der moderne Terrorismus. Dies war bereits 1993 in Mogadischu und 2001 in New York so. Besonders der islamistische Terror setzt seit dieser Zeit auf Bilder der Gewalt und des Todes, weil er weiß, dass die Medien dieser Welt ihre spektakulären Bilder nur zu gerne senden und ihnen erst damit jene Öffentlichkeit verschaffen, die für den modernen Terrorismus konstitutiv ist. Genau das ist auch in Hamburg geschehen. Was wir alle gesehen haben, waren von den Gewalttätern produzierte Szenen für die Fernsehkameras und damit für die Zuschauer in aller Welt. Man darf vermuten, dass ohne die Anwesenheit gerade der Bildmedien die Situation deutlich weniger gewalttätig und eskalierend abgelaufen wäre als mit ihrer ständigen Präsenz. Vielleicht erinnern Sie sich: Die tageszeitung hatte anders als alle anderen Medien 2004 auf eine Veröffentlichung des Fotos des von Islamisten hingerichteten Amerikaners Nicholas Berg verzichtet, mit einer leeren Seite aufgemacht und dies mit den Worten begründet: „Der Schock, der den Betrachtenden ergreift, ist das Motiv für die Tat. Die Kamera, die die Bilder aufnimmt, gehört zum Tatwerkzeug wie das Messer, das den Kopf abschneidet. Wer die Bilder zeigt, wird zwangsläufig zum Instrument der Täter.“[2] Das ist eine Sicht, die noch immer gilt.

Der Nachrichtenwert solcher Gewaltbilder ist marginal, ihr emotionalisierender und damit mobilisierender Wert aber unermesslich hoch. Vor allem erschließt sich mir als Betrachter überhaupt nicht, warum die Fernsehkameras quasi rund um die Uhr und zum Teil live mitten aus dem bürgerkriegsähnlichen Kampfgeschehen heraus berichtet haben. Ziehen die Bilder der Gewalt vielleicht auch Ihre Reporter an? Teilweise gewann man den Eindruck, dass diese – wie übrigens auch viele Gaffer mit ihren Handys am Rande des Geschehens – auf solche Bilder geradezu warteten. Die Wortnachricht, dass in Altona Autos und im Schanzenviertel Barrikaden brennen, hätte völlig ausgereicht, um Ihrer Informationspflicht Genüge zu tun. Die Zuschauer/Innen bzw. Zuhörer/Innen hätten sich auch so ein Bild machen können. Eine solche Berichterstattung jedenfalls hätte entemotionalisiert gewirkt und den Gewalttätern jene Aufmerksamkeit entzogen, auf die diese spekulierten. Möglicherweise haben die Kameras allein bereits durch ihre Anwesenheit die Situation sogar noch angeheizt.

Das sind jedenfalls Fragen, die mich bewegen und die mir im Nachhinein wichtig erscheinen, öffentlich diskutiert zu werden – und nicht nur immer wieder das vermeintliche Versagen von Politik und Polizei. Haben in Hamburg nicht auch die Medien und hier vor allem der NDR versagt, sich gegebenenfalls unbeabsichtigt zu Komplizen der Gewalttäter gemacht? Wo ist die medienkritische Selbstreflexion? In den unerträglichen Talkrunden der letzten Woche habe ich solche Fragen jedenfalls vermisst.

Nachdem der Pulverdampf verzogen ist, wäre es an der Zeit, die Rolle gerade auch Ihres Senders einmal selbstkritisch genauer unter die Lupe zu nehmen.

 

Flensburg, 16.7.2017

Mit besorgten Grüßen

Ihr Prof. Dr. Gerhard Paul

G20 in Hamburg – Ausschreitungen & Großdemo – 07.-08.07.2017. Foto/Urheber: left report NoG20HH-2017 (13), Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY-SA 2.0

Stellungnahme der Redaktion „NDR aktuell extra“ zur E-Mail von Herrn Prof. Gerhard Paul vom 16.07.2017 zur Berichterstattung über den G20-Gipfel

In seiner E-Mail vom 16.07.2017 kritisiert Herr Prof. Paul, dass in den Sendungen des NDR zum G20-Gipfel in Hamburg die Berichterstattung über Gewalttaten überwogen habe. Die „Bilder von Chaoten und Autonomen“ seien bestimmend gewesen, wodurch der NDR nach Einschätzung von Herrn Prof. Paul „den Gewalttätern erst die Bilder – und übrigens vielfach die Informationen – lieferte, weswegen diese angereist waren“. […]

Herr Prof. Paul vermutet, dass die Gewalt durch die Medien verstärkt worden sei. Der Nachrichtenwert von Gewaltbildern sei aber „marginal“, weswegen es nach seiner Meinung ausgereicht hätte, in einer Wortnachricht über die Ausschreitungen in Altona und im Schanzenviertel zu informieren. Er stellt die Frage, ob sich die Medien und insbesondere der NDR „zu Komplizen der Gewalttäter“ gemacht hätten. Herr Prof. Paul vermisst dazu eine „medienkritische Selbstreflexion“ und fordert den NDR dazu auf, dies nachzuholen.

Die Redaktion nimmt zu der Kritik wie folgt Stellung:

Der Norddeutsche Rundfunk hat die Berichterstattung über den G20-Gipfel auch für die ARD übernommen. Allein die Sondersendungen im Fernsehen kamen auf eine Gesamtlänge von mehr als 15 Stunden. Hinzu kam die Berichterstattung im Hörfunk und im Internet. Dies war angesichts der weltpolitischen Bedeutung des Gipfels journalistisch sinnvoll und angemessen.

Angesichts der Fülle von Beiträgen, Interviews und Live-Reportagen auf unterschiedlichen Ausspielwegen ist schwer überprüfbar, wie groß der genaue Anteil speziell des Themas „Gewalt“ an der Gesamtberichterstattung war. Jedoch ist weder in Bezug auf das Gesamtangebot noch in Bezug auf das Fernsehen davon auszugehen, dass dieser Teil der Berichterstattung in einem groben Missverhältnis zu den anderen relevanten Themen gestanden hätte.

Exemplarisch sei hier der 07.07.2017 herausgegriffen. Nach der Eskalation einer Demonstration am Vorabend und den Zerstörungen in Altona am Morgen war das Thema Sicherheit an diesem Tag journalistisch betrachtet von hoher Bedeutung. Dem wurde bereits in einer frühen Sondersendung im Ersten am Vormittag Rechnung getragen. Allerdings kam es hier keineswegs zu einer unreflektierten Wiedergabe von Gewalttaten. Vielmehr wurden die Ereignisse in unterschiedlichen Darstellungsformen eingeordnet, diskutiert und bewertet. Die Gewalt im Stadtgebiet hatte nach Einschätzung der Redaktion einen erheblichen Nachrichtenwert, anders als von Herrn Prof. Paul behauptet.

Darüber hinaus wurden die Inhalte des Gipfels trotz der Ausschreitungen nicht zurückgedrängt oder vergessen. Es sei hier unter anderem an die Berichte über die Bedeutung des Gipfels für den Welthandel erinnert, auch an die Studiogespräche mit den Politologen Cathryn Clüver und Josef Braml zu diesem und anderen Themen. Des Weiteren beleuchteten Live-Schaltungen zum Tagungsort und zu den Unterkünften der Staatsgäste die Erwartungen an den Verlauf des Treffens. Zudem wurde die Situation der Schwellenländer in der Gruppe der G20 thematisiert, u.a. in einem Studiogespräch mit Prof. Amrita Narlikar, Leiterin des GIGA (German Institute of Global and Area Studies) an der Universität Hamburg. Auch das Thema „multiresistente Krankheitserreger“, ein Tagesordnungspunkt des Gipfels, wurde umfassend behandelt. Dies trifft auch auf die Klimapolitik zu, Thema u.a. eines Studiointerviews mit Prof. Mojib Latif von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Korrekt ist, dass die gewaltsamen Ausschreitungen den Gipfel zunehmend überschatteten. Es ist die Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten, gerade in den öffentlich-rechtlichen Medien, über solche aktuellen Entwicklungen zeitnah zu berichten und die Realität möglichst vollständig wiederzugeben. Daher ist es nachvollziehbar und richtig, dass die gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Berichterstattung des NDR während der Gipfeltage eine bedeutsame Rolle einnahmen. Insbesondere dann, wenn die Gewalt auf der Straße zum Gegenstand politischer Diskussionen und Entscheidungen wird, muss der NDR berichten.

Dem Thema auszuweichen oder es, wie von Herrn Prof. Paul vorgeschlagen, nur in einer Wortmeldung zu behandeln, hält die Redaktion für unzureichend. Dies würde zu Recht Entrüstung im Publikum auslösen, das einen Anspruch auf zuverlässige und ausführliche Information durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk hat. Hier sind Güter abzuwägen – die Informationspflicht des Rundfunks auf der einen Seite und die mögliche Wirkung auf Nachahmungstäter auf der anderen Seite. Es können jedoch keinesfalls relevante Informationen aus politischen oder moralischen Beweggründen zurückgehalten werden, etwa um die Öffentlichkeit in guter Absicht zu schonen. Die öffentlich-rechtlichen Sender würden so ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen.

Die Gewalttaten während des G20-Gipfels wurden in den Sendungen des NDR weder verharmlost noch überbewertet, noch in geschmäcklerischer Form „ausgekostet“. In der bildliehen Darstellung wurde auf Großaufnahmen von Verletzten verzichtet. Außerdem wurde darauf Wert gelegt, das Geschehen hintergründig und aus mehreren Perspektiven zu beleuchten. In diesem Zusammenhang sei etwa an mehrere Reportagen erinnert, die das Geschehen aus der Sicht einer Einsatz-Hundertschaft der Polizei schilderten, die während mehrerer Tage von einem NDR Kamerateam begleitet wurde.

Hingegen lehnt die Redaktion eine voyeuristische, sensationslüsterne Herangehensweise grundsätzlich ab. In diesem Zusammenhang ein Hinweis auf die Unterschiede zur Berichterstattung anderer Medien: Eine dauerhafte Live-Berichterstattung, speziell über die Krawalle im Schanzenviertel hat es im Ersten und im NDR Fernsehen nicht gegeben. […]

Abschließend zu der von Herrn Prof. Paul vermissten selbstkritischen Auseinandersetzung in den Medien. Diese „Selbstreflexion“ hat der NDR begonnen, und zwar schon vor dem Gipfel in Hamburg. Das Medienmagazin „Zapp“ berichtete am 05.07.2017 über den fragwürdigen Umgang mit Gewalt und die Rolle der Medien im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel. Im Text des Beitrags war von einem beginnenden „Kampf um Symbole“ die Rede und dem Bemühen mancher Akteure, durch das Provozieren von Polizeieingriffen vor laufenden Kameras mehr Aufmerksamkeit zu erreichen. Die von Herrn Prof. Paul beschriebenen Mechanismen wurden in diesem Beitrag u.a. mit diesen Worten umschrieben: „Journalisten verbreiten genau diese Szenen. So verstärkt sich ein Ritual, das viele gar nicht wollen. Aber die Macht der Bilder ist stärker.“ Der Beitrag ist in der Mediathek des NDR abrufbar.

Dies kann eine ausführliche Diskussion zu den von Herrn Prof. Paul angestoßenen Grundsatzfragen natürlich nicht ersetzen, sondern allenfalls einleiten. Die Redaktion ist sich jedoch der zwiespältigen Wirkung von Bildern, wie sie Herr Prof Paul beschrieben hat, bewusst. Ausgewogenheit, Sachlichkeit und Seriosität sind nach Ansicht der Redaktion die geeigneten Mittel, den angesprochenen Risiken entgegenzuwirken. Außergewöhnlich viele Zuschauerinnen und Zuschauer sehen dies wohl ähnlich und haben sich zur Berichterstattung des NDR zum G20-Gipfel positiv geäußert.

 

Hamburg 26.7.2017

Andreas Cichowicz

Chefredakteur NDR Fernsehen

 

„Riots against G20 @ HAmburg.“ Urheber: Montecruz Foto, Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY-SA 2.0

 

[1] Wolfgang Kraushaar, „Hamburg hat seit Jahrzehnten ein unklares Verhältnis zur autonomen Gewalt“, in: Welt am Sonntag, 16.7.2017

[2] taz. die tageszeitung, 13.5.2004 http://www.taz.de/!752078/

 

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